Kunststoff ermöglicht schnelle Hilfe
Was wäre, wenn wir Natur- und Umweltkatastrophen ganz ohne Kunststoff bewältigen müssten? Teil 2 unserer Serie „Eine Welt ohne Kunststoff“ dreht sich um humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz.

Schnelle und koordinierte Hilfe
Wo Krieg, Brände, Dürren, Erdbeben, Tsunamis, Lawinen, Überschwemmungen und Seuchen das Überleben gefährden, braucht es schnelle und koordinierte Hilfe. Jede Sekunde zählt. Katastrophen machen Verkehrswege oft unpassierbar. Wenn Funkgeräte, Geländewagen, Helikopter und Flugzeuge fehlen, geht viel wertvolle Zeit verloren. Gleichzeitig sinkt das Transportvolumen massiv. Ohne Kraftfahrzeuge ist Pferdestärke gefragt. In den Bergen bringen Maultiere Mensch und Material zum Einsatzort.
Mit Holzlatten, Metallrohren und Stoffbahnen werden Notunterkünfte errichtet. Das dauert und die hygienischen Bedingungen sind überschaubar. Mobile Sanitäranlagen fehlen in der kunststofflosen Welt genauso wie sauberes und steriles medizinisches Notfall-Equipment. Leicht handhabbare Technologie wird bei der Sicherung der Gefahrenstelle, der Suche nach Vermissten und der Evakuierung schmerzlich vermisst. Schwer wiegt der Verzicht auf Kunststoff bei der Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser. Wenn weniger lebensrettende Hilfsgüter langsamer bewegt werden, wachsen Durst und Hunger. Krankheiten breiten sich schneller aus.
Katastrophenschutz und Kunststoff
Das Gedankenexperiment ruft deprimierende Schwarz-Weiß-Bilder von Feldlazaretten in Erinnerung. Es zeigt zugleich, wie eng die Errungenschaften des Katastrophenschutzes mit dem Aufstieg synthetischer Werkstoffe verknüpft sind. Kunststoffe ermöglichen durch ihre Vielseitigkeit, ihr geringes Gewicht und ihre Beständigkeit vieles, was zuvor undenkbar war. Ohne sie wären die Opferzahlen deutlich höher.
Katastrophenschutzeinheiten und humanitäre Organisationen machen sich über Luft-, Land- und Seewege mit Geländewagen, Helikoptern und Schiffen zu den Menschen auf. Sie haben Hilfsgüter wie Lebensmittel, Trinkwasser, Kleider und Medikamente im Gepäck. Kunststoffe spielen als langlebige und leichte Materialien eine zentrale Rolle. Sie konservieren Waren, halten sie sauber und hygienisch. Kompakte Verpackungen steigern das Transportvolumen. So kommen mehr Hilfsgüter schneller an. Kunststoffzelte für temporäre Schutzunterkünfte, Küchen und Sanitäranlagen sorgen beim Auf- und Abbau für Zeitersparnis. Genauso wichtig wie die funktionale Vielfalt und die leichte Bedienbarkeit ist der Kostenfaktor. Kunststoffe machen humanitäre Hilfe überhaupt erst weltweit leistbar.
Technologische Fortschritte
Je nach Art der Katastrophe bringen die Hilfskräfte technisches Equipment wie Sandsäcke, Pumpen, Schläuche, Schlauchboote, Schwimmwesten, Stromgeneratoren, Lampen und Heizgeräte mit. Bis auf Jutesäcke kommt nichts davon ohne Komponenten aus Kunststoff aus. Und auch bei den Sandsäcken punkten die Modelle aus Polypropylen als günstige und langlebige Alternative. Kunststoffe reduzieren das Gewicht und eignen sich für den Einsatz im Extremen. Sie sind stark belastbar und trotzen Umwelteinflüssen wie Hitze und Feuchte besonders lange. Das macht sie zum Material der Wahl bei Schutzbekleidungen aller Art: vom Helm über Handschuh, Jacke, Hose bis zum Stiefel.
Neben der technischen Grundausstattung bereichern diverse Elektronikprodukte den Katastrophenschutz des 21. Jahrhunderts. Ob unter Lawinen, Schutt oder im unwegsamen Gelände: Bei der Suche nach Vermissten erhöhen Drohnen, Wärmebildkameras und Nachtsichtgeräte die Erfolgschancen. Kommuniziert, koordiniert und navigiert wird in der Regel über Funk und GPS. Bei chemischen, biologischen oder nuklearen Unfällen braucht es spezielle Produkte zur Dekontamination und Trinkwasseraufbereitung. All das wäre ohne Kunststoffelemente schwer vorstellbar.
Perspektivenwechsel: Externe Expertise
Alexandra Malm, Strategische Kommunikationsberaterin für Planetary Health bei Ärzte ohne Grenzen im Einsatzzentrum Genf, über Kunststoff im Katastrophenschutz.

Alexandra Malm. Foto: Ärzte ohne Grenzen
Vom Notfall-Equipment über Wasserkanister bis zu Zelten: Objekte aus Kunststoff erleichtern die schnelle Hilfe. Wie würde die Arbeit in Krisengebieten ohne sie aussehen?
Ärzte ohne Grenzen benötigt eine Vielzahl von Materialien und Ausrüstungsgegenständen für die medizinische Notfallhilfe sowie für humanitäre Programme weltweit. Viele davon bestehen aus Kunststoff oder enthalten Kunststoffkomponenten – etwa Zelte, Planen oder medizinische Einwegartikel. Unsere Ausrüstung entspricht jener, die in Krankenhäusern in Europa oder anderen Teilen der Welt verwendet wird. Die Gesundheitseinrichtungen, in denen Ärzte ohne Grenzen tätig ist, sind stark auf die am Markt verfügbaren Alternativen angewiesen. Wir stehen umweltfreundlicheren Optionen offen gegenüber. Ein großer Teil der humanitären Materialien besteht jedoch aus Kunststoff, da dieses Material am einfachsten und schnellsten verfügbar ist. Ärzte ohne Grenzen ist sich der negativen Umweltauswirkungen bewusst – zumal diese auch die Gesundheit der Menschen, denen wir helfen, beeinträchtigen können. Deshalb arbeiten wir daran, unseren CO2-Fußabdruck und unsere Umweltbelastung zu verringern – auch im Hinblick auf die verwendeten Produkte.
Wo ist Kunststoff für die Versorgung unverzichtbar und welche Alternativen gibt es?
Ein großer Teil der Materialien und Geräte, die weltweit von Gesundheitsdienstleister:innen verwendet werden, besteht aus Kunststoffen und trägt daher auch erheblich zu den CO2-Emissionen bei. Dieses Material ist für die medizinische Arbeit von Ärzte ohne Grenzen von entscheidender Bedeutung. Wir arbeiten derzeit daran, Lösungen zu finden und umzusetzen, die weniger umweltschädlich sind, aber dennoch ihre medizinische Wirksamkeit und Wirkung behalten. Wir prüfen die Möglichkeit, auf alternative medizinische Materialien umzusteigen, beispielsweise auf recycelte Kunststoffartikel, und arbeiten daran, den Verbrauch von nicht-chirurgischen Untersuchungshandschuhen zu reduzieren. Unsere medizinischen Teams im Libanon haben den Verbrauch von Handschuhen um 40 Prozent reduziert, nachdem sie im Rahmen einer internen Kampagne daran erinnert wurden, wann medizinische Handschuhe bei der Arbeit mit Patient:innen zu verwenden sind und wann nicht. Wir planen, für dieses Jahr ähnliche Kampagnen in mehreren Ländern durchzuführen.
Welche Rolle spielen Abfallvermeidung und Kreislaufwirtschaft bei den Einsätzen von Ärzte ohne Grenzen – und was sind dabei die größten Herausforderungen?
Eine der größten Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, ist das Fehlen geeigneter und sicherer Recyclingstrukturen in den Kontexten, in denen wir tätig sind. In Industrieländern wird die Abfallwirtschaft stark subventioniert – das ermöglicht funktionierende Recyclingströme und letztlich auch den Aufbau einer Kreislaufwirtschaft. In vielen Ländern sind wir trotz einzelner vielversprechender Ansätze noch weit von solchen Strukturen entfernt. Eine weitere große Hürde auf dem Weg zu einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft im medizinischen Bereich ist der Mangel an verfügbaren Alternativen seitens der Pharmaindustrie – ebenso wie die strengen Vorschriften, die den Einsatz bereits existierender Optionen, wie etwa wiederverwendbarer Atemkanülen oder bestimmter Textilien, erheblich einschränken.
In das globale Plastikabkommen wurden zuletzt große Hoffnungen gesetzt – in der Erwartung, dass es einen Wandel in der Kunststoffindustrie anstoßen würde. Doch während der Verhandlungen konnte sich die Pharmaindustrie von möglichen Anforderungen, die sich aus der neuen Regelung ergeben hätten, vollständig ausnehmen lassen. Vor diesem Hintergrund ist die wichtigste Maßnahme für eine bessere Abfallwirtschaft die Reduzierung der Abfallmenge selbst. Wir setzen daher gezielt darauf, Abfall zu vermeiden und weniger davon zu produzieren – etwa durch die Reduzierung von medizinischen und nicht-medizinischen Einwegmaterialien. Wo immer möglich, bevorzugen wir wiederverwendbare Alternativen. Darüber hinaus entwickeln wir kontextspezifische Abfallmanagementpläne, um vor Ort geeignete Lösungen zu identifizieren – mit dem Ziel, mehr Materialien zu recyceln oder zumindest eine sichere Entsorgung sicherzustellen.
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